
Interview
Bürokratie-Explosion in Deutschland: Warum unsere Gesetze die Realität ignorieren
KOMMUNAL: Frau Prof. Dr. Kuhlmann, woran liegt es, dass die Bürokratie immer mehr zunimmt statt abnimmt?
Sabine Kuhlmann: Die Bürokratie nimmt unter anderem zu, weil wir es mit neuen und komplexen Problemen und Herausforderungen zu tun habe. Die Politik versucht, diese mit immer mehr Regulierungen zu lösen mit größtmöglicher Einzelfallgerechtigkeit sowie in Abwesenheit funktionierender digitaler Verfahren. Das Ganze ist eingebettet in komplexe föderale Strukturen und eine stark verrechtlichte Verwaltungskultur. In der Steuerung dominiert Recht, blockiert aber zunehmend eben auch. Hinzu kommt, dass Rechtsetzungsprozesse vollzugsfern ausgestaltet und mit zu kurzen Fristen versehen sind.
Was ist die Folge?
Dadurch entstehen handwerklich schlecht gemachte Regelungen, die in der Praxis nicht funktionieren, ihre Wirkungen nicht entfalten können und das Bürokratieproblem weiter verschärfen – bis hin zu regulativer Überforderung oder gar „Bürokratienotstand“, wie manche Kommunen ja bereits signalisieren. Natürlich geht es bei neuen Gesetzen auch um Gestaltung und Profilierung von Seiten der Politik und Fachbürokratie. Aber gerade in den letzten Jahren haben neue Regulierungen unverhältnismäßig hohen Erfüllungsaufwand produziert, der zu erheblichen Ausschlägen in unserer Statistik geführt hat.
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen wir das Gebäudeenergiegesetz. Das bringt neben dem möglichen Nutzen, der übrigens auch fraglich ist, eine Reihe von neuen Belastungen für die Bürger und die Wirtschaft. Für die Kommunen ist vor allem Mehraufwand aus neuen Regulierungen zur kommunalen Wärmewende entstanden.
Wie groß ist das Bürokratieproblem in Deutschland aus Ihrer Sicht?
Es ist schon gravierend. Als Nationaler Normenkontrollrat führen wir Statistik darüber und können sehen, dass der Erfüllungsaufwand in den letzten Jahren enorm gewachsen ist. Das sind nicht nur die „klassischen“ Bürokratiekosten im Sinne von Papierkram, sondern auch darüberhinausgehende Investitionen, die für die Umsetzung von Gesetzen notwendig sind. Im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern oder Skandinavien neigen wir in Deutschland zu weit mehr Bürokratisierung.
Ist das typisch deutsch? Also eine Frage der Mentalität?
In Deutschland spielen dabei mehrere Faktoren eine Rolle. Wir leben in einer starken Rechts- und Regelkultur, in der uns die Einzelfallgerechtigkeit sehr wichtig ist. Darüber hinaus legen wir viel Wert auf Schriftformerfordernisse, Dokumentationspflichten und strenge Datenschutzvorgaben. Auch einer Volldigitalisierung stehen viele skeptisch gegenüber. Von einigen anderen Ländern unterscheidet uns: Wir steuern und gestalten bevorzugt über Regulierungen.
Von einigen anderen Ländern unterscheidet uns: Wir steuern und gestalten bevorzugt über Regulierungen.
Was sind die größten Hindernisse?
Einer der wesentlichen Hebel für den Bürokratieabbau ist, dass wir in der Digitalisierung vorankommen. Eine weitere Stellschraube ist der dringend notwendige Wandel in unserer Gesetzgebungskultur, die sich mehr an der Vollzugs- und Digitaltauglichkeit von Regulierungen ausrichten sollte - nach dem Motto „Erst der Inhalt, dann die Paragrafen“. Hinzu kommt, dass Mitarbeitende von Bundesbehörden, in denen die Gesetze erarbeitet werden, sehr stark durch ihre juristische Ausbildung geprägt sind. Sie schauen zunächst auf die rechtlichen Regelungen und nicht auf die praktische Umsetzbarkeit. Es wäre hilfreich, für in diesen Verwaltungsbereichen mehr Varianz im Hinblick auf die Qualifikationsabschlüsse zu erreichen und außerdem die juristische Ausbildung zu modernisieren.
Wie weit beeinflussen EU-Bestimmungen unsere Bürokratie in Deutschland?
In einem erheblichen Maße. Rund 57 Prozent des Erfüllungsaufwands, den wir auf Bundesebene messen, kommt durch neue rechtliche Regelungen der EU zustande.
Wie viel Hoffnung verbinden Sie beim Thema Bürokratieabbau mit der neuen Bundesregierung?
Aus Sicht des Normenkontrollrats muss ich sagen, dass wir bisher noch keinen Koalitionsvertrag gesehen haben, der unsere Forderungen so dezidiert, ja fast 1:1, aufgegriffen hat. Das Thema Bürokratieabbau hat im Vertrage einen sehr prominenten Stellenwert. Unsere Erfahrungen seit der Gründung des NKR im Jahr 2006 sind aber: Nicht alles, was da drin steht, wird auch umgesetzt.
Was ist konkret geplant?
Wir sind gespannt, ob es der Bundesregierung gelingt, den Gesetzgebungsprozess zu modernisieren. Laut Koalitionsvertrag sollen Gesetze viel stärker schon vor Verabschiedung auf Vollzugstauglichkeit untersucht werden. Bisher wurden solche Praxis-Checks nur vereinzelt angewendet. Hier liegt enorm viel Potenzial.
In welchen Fällen?
Wenn Gesetze und Regulierungen nicht richtig funktionierten, weil sie die Vollzugspraxis außer Acht lassen. So wurden zum Beispiel Supermarktkettenbetreiber gefragt, warum sie keine Solarpaneele auf ihren Dächern anbringen. Das bezog sich allerdings auf bereits geltendes Recht, also ex post. Künftig sollen solche Praxis-Checks flächendeckend vorab zum Einsatz kommen, das heißt ex ante. Es wäre wünschenswert, dass dann auch die Kommunen schon vor Verabschiedung eines Gesetzes nach dessen praktischer Umsetzbarkeit gefragt werden.
Was kann Kommunen noch entlasten?
Für die Kommunen ist auch die Ankündigung interessant, den Digitalcheck zu verstetigen und zu verbessern. Denn hier wird bei jedem Gesetz vorab geprüft, ob es auch digital vollzogen werden kann. Wenn immer noch eine Unterschrift auf dem Papier erforderlich ist oder der Bürger im Amt erscheinen muss, dann ist es schlicht nicht digitaltauglich. Ziel muss es sein, grundsätzlich auf Schriftformerfordernisse zu verzichten.
Wie können Bund, Länder und Kommunen es schaffen, dass eine unnötige Bürokratie nicht immense Summen verschlingt?
Bund, Länder und Kommunen können gemeinsame Initiativen starten, um Bürokratie abzubauen und dafür zu sorgen, dass weniger Bürokratie entsteht. Die in Aussicht gestellte Staatsmodernisierung wäre hier ein richtiger Ansatz. Auch die Reform des Sozialleistungssystems und der Sozialverwaltung ist ein Bereich, in dem alle Ebenen zusammenwirken müssen, um die Komplexität des Systems zu reduzieren und den Sozialstaat wieder handlungsfähiger und adressatenfreundlicher zu gestalten. Da geht es nicht um den Rückbau von sozialen Leistungen, sondern darum, die Sozialverwaltung und das Leistungsgeflecht zu vereinfachen. Das kann die Kommunen, in denen ja die Sozialämter, Jugendämter und Jobcenter angesiedelt sind, erheblich entlasten.
Die komplizierte Fördermittelbeantragung macht den Kommunen zu schaffen. Was müsste sich ändern, damit das Geld leichter bei ihnen ankommt?
Die Kommunen haben recht damit, dass wir einen Förderdschungel haben, in dem keiner mehr durchblickt. Ich bin nicht für eine generelle Pauschalierung von Fördermitteln, wie die Kommunen sie oft fordern. Es sollte aber mehr Spielraum geben und durchaus auch mehr pauschale Zuwendungen, mehr Transparenz sowie Bündelung von Fördergegenständen.
In Baden-Württemberg ist ein kommunales Befreiungsgesetz geplant, auch in Rheinland-Pfalz wird es diskutiert. Kommunen sollen auf Antrag befristet von bestimmten landesrechtlichen Vorschriften abweichen dürfen. Eine gute Idee?
Die Kommunen von ausgewählten staatlichen Regelungen freizustellen, halte ich für eine gute Idee. Der Ansatz ist gar nicht so neu. Schweden hat das schon Anfang der 1990er-Jahre gemacht, mit dem sogenannten Freie-Kommune-Experiment. Um innovative Lösungen auszuprobieren braucht es Experimentierklauseln, die Freiräume zulassen – jenseits des engen Regelungskorsetts. Davon würden auch die deutschen Kommunen profitieren, denn das deutsche Kommunalmodell zeichnet sich im internationalen Vergleich durch funktional und politisch starke Kommunen aus, denen wir mehr Vertrauen entgegenbringen sollten.
Wenn Sie einen Wunsch freihätten: Welche Regel oder Vorschrift würden Sie sofort abschaffen – im Sinne der kommunalen Entlastung?
Ich würde da eher konkrete Leistungen nennen, die von den Kommunen zwar im Auftrag des Staates vollzogen werden müssen, bei denen sie aber keinerlei lokale Gestaltungskraft oder kommunale Politikspielräume haben. Einige dieser gestaltungsarmen übertragenen Staatsaufgaben könnte man außerdem viel effizienter digital und gebündelt über Plattformlösungen erbringen, wie etwa die Beantragung eines Führerscheins oder die Zulassung eines Kfz. Die Zeit, die damit gewonnen wäre, könnten Kommunen viel sinnvoller für ortsnahe Gestaltungsaufgaben und Leistungen für die lokale Bürgerschaft nutzen.